# 402

STADT DER ZEICHNUNG

Anderswelten

Ausstellung vom 28.11.2021 bis 16.01.2022

Norbert Bauer/Ralf Tekaat | Bremen/Berlin

Astrid Brandt (†)| Wilhelmshaven

Rebekka Brunke | Mannheim

Melanie Grocki | Stuttgart

Barbara Hindahl | Mannheim

Alles Zeichnung – Zeichnung macht alles in der Stadt der Zeichner*innen.

Vernissage Sonntag, 28.11.2021, 11Uhr

Materialtechnisch denkbar einfach ist die Zeichnung das Medium, das sich als künstlerische Ausdrucksform in seiner Reduktion und Einfachheit mit keinem anderen Medium der bildenden Kunst messen kann. 

Die Ausstellung „Stadt der Zeichnung“ im Kunstverein Speyer verkörpert einen utopischen Raum, in dem sich fünf zeichnerische Positionen versammeln. Diese virtuelle Stadt beherbergt erzählerische, abstrakte, dokumentarische, konzeptionelle, erforschende,  beobachtende und wahrnehmende Positionen der Zeichnung. In den Häusern der Stadt sind „Anderswelten“ zu entdecken, die die Vielfalt zeichnerischer Ausdrucksmöglichkeiten sichtbar machen. Die ausstellenden Zeichner*innen füllen die „Häuser“ der Stadt mit gezeichneten Gedanken, Konzepten, Abbildern und Ideen. 

Formal sehr unterschiedlich sind die künstlerischen Positionen, die die „Stadt der Zeichnung“ präsentiert. Ob Bleistift, Farbstift, Kohle, schwarz-weiß oder farbig, abstrakt oder gegenständlich, flächig oder linear – dahinter verbergen sich jedoch eigene Universen der Künstler*innen, in denen sich komplexe persönliche und gesellschaftliche Erzählungen behaupten, in denen andere Welten erschaffen und geistvoll ausformuliert werden. 

Die Stadt der Zeichnung feiert das Medium der Zeichnung als eigenständige künstlerische Ausdrucksform. 

Einführung von Clemens Ottnad M.A., Kunsthistoriker, Stuttgart 

Geschäftsführer des Künstlerbundes Baden-Württemberg

In der Stadt der Zeichnung, die Bauer-Tekaat, Astrid Brandt, Rebekka Brunke, Melanie Grocki und Barbara Hindahl mit der aktuellen Ausstellung errichtet haben, eröffnen sich neue Welten der Zeichnung, andere als die der Zeichnung vielleicht gemeinhin zugedachten, Anderswelten aber in jedem Fall, wie sie die hier vertretenen Künstlerinnen und Künstler selbst benannt haben. Anderswelten insoweit, als hier nicht etwa der Vorzeichnung, der Skizze, dem auszuführenden Entwurf Vorschub geleistet wird, vielmehr die Zeichnung ganz sie selbst ist, selbständiges Medium. Und das mit Fug und Recht, wie die 5 hier gezeigten Positionen von Zeichnerinnen und Zeichnern eindrucksvoll beweisen, dieselben zwischen den Städten Berlin, Bremen, Mannheim, Stuttgart und Wilhelmshaven angesiedelt.

Es ist also nicht der solipsistische Strich, der da einsam auf dem reinweißen Büttenpapier steht. Es handelt sich vielmehr um Linientumulte, flächige Lineamente, komplexe Zeichengebilde, die ebenso auch andere bildnerische Ausdrucksmittel – Malerei, Fotografie, Collage, plastische Arbeiten – wie auch Alltagsfunde aus anderen Bereichen mitdenken lassen. Und damit unsere Wahrnehmung von Wirklichkeit (und Wirklichkeiten) mit den der Handzeichnung spezifisch eigenen Mitteln zu hinterfragen und möglicherweise sogar auf den Kopf zu stellen verstehen.

Sich in diesen zeichnerischen Metropolen denn auch zurechtzufinden, mag mit ausgeklügelten Wegeplänen gelingen, wie sie uns Melanie Grocki (*1983, Stuttgart) anzubieten scheint. Dichte Netzwerke spannen sich von Punkt A nach B, bilden Dreieckszellen aus, werden überlagert von mehrfachen Buntstiftschichten, die sich wie Farbsedimente auf dem Papier angelagert haben (und teilweise auch wieder ausradiert sind und dennoch helle Linien hinterlassen). Doch schon beim ersten optisch-visuellen Abtasten und Nachfahren des weitverzweigten Streckennetzes stellen wir – im besten Sinne verwirrt, möchte man sagen – fest, dass uns mikro makro changierend gar nicht klar ist, ob wir uns mitten in kleinsten biologischen Strukturen eines Körperinneren befinden und den Synapsen bei der Arbeit zuschauen können oder ob die Zeichnerin nicht doch umgekehrt kosmische Weiten vor uns ausgebreitet hat. Auf alle Fälle bilden zunächst zufällig gesetzte Aquarelltropfen, mit breitem Pinsel auf dem Papiergrund verstreut, jene Anfangspunkte, von denen aus die Lineamente ausschwärmen. Liniensysteme, die mathematischen Modellen gleichen, einem geheimen Algorithmus folgen, abertausendfache, jeweils individuelle Entscheidungen sind, an welcher Stelle die nächste Wegelinie anknüpft. Führen diese, vielverschichtet, über die Blattränder hinaus, wirken sie wie flächenhafte Teilpläne eines größeren Ganzen, bleiben sie – wie in der Reihe der Klumpen zu sehen – dagegen als in sich geschlossene Formen erhalten, muten sie wie kristalline Konstrukte an, die meteoritengleich vom Himmel gefallen sind und vor unseren Augen nun inwendig weiter nachglühen.

Farbe auch bei Barbara Hindahl (*1960, Mannheim), scheinbar rasch hingeworfene Pinselhiebe – Brush Strokes eben –, fest aufgedrückt die Farbe mal deckend aufgetragen, dann wieder wässrige Lasuren, Schlieren, Kleckse. Doch was da vermeintlich als Ergebnis gestischer Malerei wirken mag – von emotionaler Spontaneität geführt –, erweist sich als sorgsam und langwierig ausgearbeitete Zeichensetzungen im großen Format. Die Zeichnung zitiert die Malerei (oder was wir von ihr geläufig so erwarten), sie imitiert sie, zerlegt sie in ihre Bestandteile, äfft sie möglicherweise sogar nach. Entgegen dem inhaltsentleerten Geschwindigkeitsrausch flüchtiger Wahrnehmung legt sie (die Zeichnung und die Zeichnerin) damit eine Vollbremsung ein, hält kurzerhand die Zeit an, verlangsamt sie Strich um Strich, Linie um Linie. Was ist wirklich wirklich? In all der Fake-Realität einer grenzwertigen – wie sie sie selbst nennt – „Borderline-Gesellschaft“, die uns umgibt. Und nicht zuletzt ist darin auch ein ironischer Seitenhieb auf Entwicklungen im gegenwärtigen Kunstmarkt enthalten, der bisweilen ebenso frenetisch glossy glatten Oberflächen zu huldigen pflegt. Reichen Gesten denn tatsächlich aus? Oder bedarf es nicht vielmehr des Tuns und eines aktiven Tätigwerdens, von Inhalten, Argumenten, Qualitäten? 

Da mag man sich in der Bildwelt von Astrid Brandt (1963–2019, Wilhelmshaven) schon sicherer fühlen. Um uns herum wohl vertraute Alltagsgegenstände, penibelst aufgeräumte Wohnräume mit gewöhnlichem Möbelinventar, meist einer kürzlich erst vergangenen Epoche entstammend, nicht nur sauber sondern rein, technische Apparaturen, die anscheinend eben noch benutzt worden sind. Doch nirgends in diesen Innenräumen tauchen menschliche Figuren auf, keinerlei Akteure behausen die gezeigten Architekturen oder verwenden die dort zur Verfügung stehenden Gerätschaften, die das tägliche Leben im Allgemeinen ach so angenehm machen. Im Gegenteil: in den hyperrealistisch durchgezeichneten Blättern schickt sich die Wirklichkeit an sich aufzulösen, geradezu zu Staub (Zeichenstaub, Zeichnungsstaub?) zu pulverisieren. Die ehemalige Existenz ihrer Bewohnerinnen und Bewohner ist allerhöchstens schemenhaft kühl erahnbar, nur haben die verschwundenen Niemande vergessen, das Licht zu löschen. Der Aufstand der Dinge hat längst begonnen, wie ihn bereits Erhart Kästner in seinem Roman Aufstand der Dinge (1973) beschrieben hat, in dem es fortan darum geht, „mit den Dingen in einen Vertrag zu gelangen. Dann können die Dinge nicht anders, sie müssen antworten.“

Menschen, die menschliche Figur immerhin bei Rebekka Brunke (*1970, Mannheim). Aber wir ahnen es zum jetzigen Zeitpunkt bereits in der von ihr und Barbara Hindahl kuratierten Schau, dass es den sie Betrachtenden wohl nicht ganz so einfach gemacht werden wird. Auch hier ein Crossover sowohl von Inhalten als auch der bildnerischen Medien an sich. Die Arbeiten kommen nämlich zunächst wie Collagen bzw. Montagen daher, die die Künstlerin aus mehreren Bruchstücken, Fragmenten und Fetzen zusammengefügt hat. Tatsächlich haben wir es jedoch mit Kohlezeichnungen auf einem kohärenten Darstellungsgrund zu tun. Ihre detailgetreu durchgearbeiteten Dada-Drawings behaupten zwar – in Analogie zu fotografischen Phänomenen, Presseausschnitten, Abbildungen aus wissenschaftlichen Werken u.ä. – faktische Wirklichkeit zu sein, sind aber Fiktion, frei flottierend kombiniert: ein Portraitkopf, zusammengesetzt aus drei verschiedenen Personen oder riesenhafte Geschichten von mir unbekannten Gegenden (einer der Bildtitel), in dem die unbekannte Gegend schlicht das unberührte Papierareal ist, das zwischen den amputierten Resten eines Kinderbeines und der Ecke eines Möbelstückes eine rätselhaft zugeschnittene – in der Tat aber gezeichnete – Silhouette freigibt. Christian Hillengaß hat das in einem wunderbaren Text einmal so formuliert: „Himmel und Erde verrutschen, Körper hinterlassen Konturen, Hände tasten durch die Luft, als wären sie Sensoren für etwas Unsichtbares. Immer wieder erscheinen Gesichter, maskenhaft und wandelbar. […] ein zweites Gesicht, ein anderer Charakter blitzt auf, jung und alt vermischen sich.“

Menschen, allzu Menschliches begegnen uns zuletzt dann mit den Arbeiten von Norbert Bauer (*1967, Bremen) und Ralf Tekaat (*1970, Berlin). Auf zwischenzeitlich 264 Din-A4-Bögen ist der Mammutkomplex ihrer sogenannten Zentrale Verwaltung ausgebreitet. Zeichnungen, die häufig den postalischen Weg von Bremen nach Berlin und vice versa zurückgelegt haben, ein nahezu zeichnerisches Duett, Frage- und Antwortspiel, ein Ping Pong von Zeichen und Symbolen unserer wahnhaft überbordenden Bürokratie und Technikwelt. Die omnipräsenten, neonfarbenen Post-It-Notizen, die einschlägig aus dem Computer bekannten Zeichensätze als linkisch wiedergegebene Typografien verballhornt, überhaupt jedwede Präzision ausgetrickst, gerät der alle und alles normieren wollende Verwaltungsapparat zur schier karnevalesken Farce. Bauer-Tekaat erläutern selbst, dass sie keineswegs Klarheit und Erkenntnis in ihrer Arbeit anstrebten, sondern dass es vielmehr darum ginge, sich in Gängen, Dienstzimmern, Nebengebäuden, Vorschriften und Zuständigkeiten gefälligst spielerisch zu verlieren. So hat sie uns denn doch wieder eingeholt, die Alltagswelt der Städte und der städtischen Amtsstuben, in der wir – irgendwo zwischen stupide und meditativ – lochen, heften, falten, knicken, und der zeichnerisch angekündigte Papierstau des Druckers wie eine himmlische Verheißung, von höchster Stelle angeordnet, klingen muss.

Angesichts der aktuellen Ausstellung also kann man die alt-antike perikleische Weisheit, die da einstmals verlautete „Die Menschen, nicht die Häuser machen die Stadt.“ getrost insofern umformulieren, dass nämlich die Zeichnerinnen und die Zeichner die Stadt ausmachen. Eine virtuelle Stadt der Zeichnung mindestens, in der man sich – mit Augen, Hirn und Herz – nur allzu gerne einrichten und niederlassen möchte. Das kann man so nicht von vielen Städten sagen.

Clemens Ottnad M.A., Kunsthistoriker, Stuttgart

Geschäftsführer des Künstlerbundes Baden-Württemberg

Ausstellungsrundgang