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Franziska Rutishauser

CLOSE STRANGENESS

Ausstellung vom 18. März bis 16. Mai 2021

Ein kurzer Videofilm gibt einen ersten Einblick in die Ausstellung von Franziska Rutishauser, die nach kurzer Zeit  wegen den Corona-Bestimmungen wieder geschlossen werden musste.

Die 1962 geborene und 1988 in Bern diplomierte Schweizer Künstlerin arbeitet seit 2010 auch in Berlin. In den letzten Jahren hatte sie Einzelausstellungen in mehreren deutschen Kunstvereinen und Galerien sowie Gruppenausstellungen in Institutionen in Deutschland, der Schweiz, Tschechien, Brasilien und Frankreich.

In der neuen Ausstellung der Schweizer Künstlerin Franziska Rutishauser wird ein Fokus auf grundsätzliche Fragen gelenkt, die insbesondere in der aktuellen Zeit von immenser Aktualität sind: Wie greifbar und fassbar sind Dinge, die wir nicht sehen, nicht begreifen können und die trotzdem real sind?

Das Jahr 2020 markiert weltweit einen unerwarteten Wendepunkt in politischer, sozialer und gesellschaftlicher Hinsicht. Wenn der Besucher in der Ausstellung auf Gemälde aus der Serie Wandering Matter oder auf die Zeichnungen Fremdlinge (Aliens) von 2016 blickt, so mag er sich auf unheimliche Weise an aktuelle Bilder aus den Medien erinnert fühlen. Die vereinzelt dargestellten, abstrakt scheinenden Formen in den Gemälden und Zeichnungen von Franziska Rutishauser wirken wie unbekannte, organische Strukturen.

Fast unheimlich schweben in den Arbeiten die rötlich-weißen Objekte vor einem nahezu schwarzen Hintergrund in den Stranger-Wandering Matter-Werken, während die Objekte in den Zeichnungen Fremdlinge wie blasse, fast ausgeblutete Organismen vor grauem Hintergrund im grenzenlosen Raum wirken. Die Parallelen zum jetzt so häufig abgebildeten Corona-Virus erscheinen eklatant: Die »Kronen« des Virus, die vom meist grau illustrierten Viruskörper abstehen, werden medial häufig in leuchtendem Rot vor dunkelblauem Hintergrund gezeigt. Auch die schräg aus dem Bildaußenraum beleuchteten, roten Körper in den Stranger-

Wandering Matter-Werken haben vielfach harte Konturen. Die Assoziation ist jedoch nicht nur bildhaft gegeben. Vor allem auf der Metaebene wirken die Werke von Rutishauser als Spiegel unseres Zeitgeschehens.

Die Werke von Franziska Rutishauser scheinen genau das von so vielen Zwischentönen bestimmte und angespannte Verhältnis des Menschen zu seiner organischen Umgebung mit malerischen Mitteln darzustellen. Die von der Künstlerin in feinster, detailreicher malerischer und zeichnerischer Ausgestaltung geschaffenen, amorphen Formen sind dabei keine Fantasiegebilde aus ihrem Geist, sondern entstammen der Natur. Rutishauser sammelt Erinnerungen und Gesteine – von Orten, an denen sie in den letzten Jahren Zeit verbracht hat. Die von ihr nach ureigenen, ästhetischen Kriterien ausgewählten Steine sind ursprünglich erratische Gesteinsklumpen, die in der Geologie als Geschiebe bezeichnet werden.

 

Ausstellungsrundgang

Rutishauser selbst erklärt, dass diese Steine, wenn sie in großen Formaten auftreten, nicht nur als Findlinge, sondern auch als Fremdlinge bezeichnet werden können. Deren vereinzeltes oder auch vermehrtes Auftreten in Landschaften, aus denen sie offensichtlich nicht stammen können, führte jahrhundertelang zu Diskussionen, wie diese teils sehr schweren Steine an bestimmte Orte überhaupt gelangen konnten. Erst im 19. Jahrhundert setzte sich insbesondere dank der Forschungen des deutschen Geologen Karl Friedrich Schimper (1803-1867) die Erkenntnis durch, dass die Steine während der Eiszeiten durch Gletscher transportiert und an den heutigen Orten abgelegt worden waren. Franziska Rutishauser hat diese Formationen in ihren Gemälden und Zeichnungen stark vergrößert und in ihre eigene farbige Zweidimensionalität umgesetzt. Die amorphen Formen regen durch ihre brillante, detailreiche und fein abgestimmte Farbigkeit dazu an, reale Formen suchen und finden zu wollen. Hier oder dort vermag man das Gesicht eines Mannes mit Bart, einer Frau mit welligem Haar oder den Körper eines Babys zu erkennen. Mit Abstand betrachtet bleibt der Eindruck, dass diese Formen im Nichts zu schweben scheinen. Das starke Gefühl entsteht, dass die Formen eine Metapher für unser Universum sind. Das Einzelne steht für das große Ganze.

Wir sind nur mehr eine verschwindend kleine organische Struktur im unermesslichen, für unser menschliches Gehirn unfassbar großen All – im Größenverhältnis stehen wir zum All wie Moleküle zu uns. Voller Ehrfurcht können wir uns in dem Ausstellungsraum bewegen angesichts dieser schieren Unendlichkeit der Welt.

Besonders hervorzuheben ist dabei das kleine Kabinett in der Ausstellung, in der die Arbeit Asteroid von 2018 gezeigt wird . Die Fotografie ist zerteilt in 12 Ausschnitte, die in 12 Leuchtkästen eingebracht sind. Aus dem dunklen Raum heraus scheint der Himmelskörper auf uns zu zuschweben. Der Betrachter scheint dem bedrohlichen Objekt, das durch die Zerteilung wie auf ein Raster aufgezogen wirkt, gefährlich nahe zu kommen. Wird es zu einem Zusammentreffen kommen?

Erneut überlagern sich in unserer Vorstellung die Gedanken vom Großen im Kleinen und umgekehrt. Close Strangeness – enge, nahe Fremdheit gegenüber dem, was uns umgibt, aber unbegreiflich erscheint. Wie nah sind wir dem uns doch so Fremden? Wie können wir das für uns Unfassbare akzeptieren und verstehen? Wie können wir gerade auf Distanz erkennen, was uns nahe steht? Nähe durch Distanz – Franziska Rutishausers Ausstellung erscheint in der jetzigen Zeit als sensibler, ästhetisch kraftvoller Spiegel dieser besonders aktuellen Fragestellung.

2020 Harriet Häußler